Eingangstor zu einem Backsteingebäude mit Supraporte

Geschichte des
Ortes

Die ehemalige Leipziger Arbeitsanstalt

Zwangsarbeitsanstalt zu St. Georg ab 1892

Die Riebeckstraße 63 im Leipziger Südosten war ein zentraler Ort sozialer Ausgrenzung über die politischen Systeme des 19. und 20. Jahrhunderts hinweg. Auf insgesamt 28.000 m² wurde dort 1892 die städtische »Zwangsarbeitsanstalt zu St. Georg« fertiggestellt. Ihre Vorgängerorganisation war das »Georgenhaus zu Leipzig« am Brühl, das bis in die 1870er Jahre als Armen-, Zucht- und Waisenhaus genutzt wurde. Seit den 1880er Jahren wurde die soziale und gesundheitliche Versorgung zwar stärker als staatliche Aufgabe wahrgenommen. Breite Teile der Bevölkerung wurden jedoch von staatlichen Leistungen ausgegrenzt. In Arbeitsanstalten wie in der Riebeckstraße 63 sollte Pflichtarbeit der »Erziehung« der Insass:innen dienen. Zwangseingewiesen wurden unter anderem Menschen, die durch die Industrialisierung massenhaft arbeits- und obdachlos geworden waren, Bettler:innen sowie unterschiedliche als »Kranke« bezeichnete Personen oder vermeintliche Prostituierte. In dem Gebäudekomplex wurde 1895 auch ein Nachtasyl für Obdachlose eingerichtet. 1909 wurde die Einrichtung in »Städtische Arbeitsanstalt« umbenannt, ihre repressive Funktion änderte sich jedoch nicht. Gewalt durch das Anstaltspersonal stand kontinuierlich auf der Tagesordnung. Die Zustände wurden insbesondere in der Zeit der Weimarer Republik häufig skandalisiert, es sei dort »schlimmer als in der Strafanstalt«.

Die Arbeitsanstalt im Nationalsozialismus

In der Zeit von 1933 bis 1945 wurde das Gelände der Riebeckstraße 63 zu einem zentralen Ort der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik in Leipzig. Die Polizei wies dort weiterhin Gefangene ein, neu waren insbesondere politische Gegner des Nazi-Regimes. Zahlreiche Verfolgtengruppen passierten die Städtische Arbeitsanstalt: Beispielsweise mussten Sinti:ze und Rom:nja dort Pflichtarbeit leisten, um Fürsorgeunterstützung zu erhalten. Besonders als »asozial« und »arbeitsscheu« stigmatisierte Personen wurden in die Arbeitsanstalt zwangseingewiesen. Bereits ab 1934 fanden rassistische »erbbiologische Untersuchungen« statt, die zu Zwangssterilisierungen führten. Mindestens 76 Insass:innen der Städtischen Arbeitsanstalt wurden 1940/41 in Tötungsanstalten wie Pirna-Sonnenstein Opfer von »Euthanasie«- Verbrechen. Das Anstaltsgelände diente 1938 und 1939 mehrmals als Sammel- und Durchgangslager für Jüdinnen und Juden. Während des Zweiten Weltkriegs bildete die Riebeckstraße 63 das Zentrum für die Verteilung, Kontrolle und Bestrafung von zivilen Zwangsarbeiter:innen in Leipzig. Mindestens 80.000 Menschen passierten das Gelände der Arbeitsanstalt. In einem der Keller befand sich zudem ein »Ausländergefängnis«, wo vor allem nicht-deutsche Zwangsarbeiter:innen eingesperrt wurden. Durch alliierte Bombenangriffe wurden einige Gebäude der Anstalt zersört, zwei Häuser wurden nach 1945 abgerissen.

Die Riebeckstraß 63 in der DDR: Gefürchtete „Tripperburg“

Nach Kriegsende wurde der Gebäudekomplex zunächst zur Unterbringung von ehemaligen Zwangsarbeiter:innen genutzt. 1946 richteten die sowjetischen Besatzungsbehörden das »Fürsorgeheim für Geschlechtskranke Leipzig-Thonberg« ein. Dies bildete die Grundlage für die 1952 in der DDR eröffnete geschlossene Venerologische Station. Sie war ein zentrales Instrument der staatlichen Repression. Mädchen und Frauen wurden dort oftmals ohne gesetzliche Grundlage zwangseingewiesen und gegen ihren Willen täglich gynäkologisch auf Geschlechtskrankheiten untersucht. Venerologische Stationen, im Volksmund »Tripperburgen« genannt, stellten keinen Ort der Genesung, sondern der Disziplinierung und Misshandlung dar. Als »Herumtreiberinnen« stigmatisierte Personen wurden etwa bei Verdacht auf Prostitution von der Polizei eingewiesen. Betroffene dieser Form von sexualisierter Gewalt haben heute Anspruch auf Entschädigung. Die weiterhin auf dem Gelände befindliche Städtische Arbeitsanstalt wurde 1954 in »Heim für soziale Betreuung« umbenannt. In den 1950er Jahren wurde zudem eine Wohnung im Verwaltungsgebäude für konspirative Treffen der DDR-Staatssicherheit genutzt. Ab 1971 wurde in der Riebeckstraße 63 eine Außenstelle des Bezirkskrankenhauses für Psychiatrie und Neurologie Leipzig-Dösen untergebracht. Hier war die Versorgung der Patient:innen mitunter katastrophal. Erst nach dem Ende der DDR konnte ein Prozess der Enthospitalisierung durch Aktivist:innen beginnen.

Seit 1989/90

Nach der politische Wende von 1989/90 wandelte sich die Nutzung des Areals abermals. Die Venerologische Station wurde aufgelöst und eine Gruppe von Aktivist:innen setzte sich für die Enthospitalisierung des Sozialheims ein. Seit 1999 ist das Gelände in Trägerschaft des Städtischen Eigenbetriebs Behindertenhilfe (SEB). Heute befinden sich auf dem Areal eine Kindertagesstätte, eine Wohngruppe der Kinder- und Jugendhilfe sowie eine Unterkunft für Geflüchtete. Bis Ende der 2010er Jahre erinnerte vor Ort allerdings Nichts an die über einhundertjährige Gewaltgeschichte, dies wollen wir ändern!

Historischer Audio-Rundgang zur Riebeckstraße 63

Wir haben einen Audio-Rundgang erarbeitet, der weiterführende Informationen zum Gelände und seiner Geschichte bietet. Man kann die App zu Hause benutzen oder während eines Spaziergangs über das Gelände.

Zum Audiorundgang: https://rundgang.riebeckstrasse63.de

Die digitale Version von unserem aktuellen Flyer findet sich hier: Riebeckstraße 63 Flyer Initiative (Stand Juni 2024)