Als Jude im NS-Internierungslager der Leipziger Arbeitsanstalt:
Der Überlebendenbericht von Heinz Sprung
Es sind nur wenige Zeugnisse aus der Perspektive von NS-Verfolgten, die in der Riebeckstraße 63 interniert waren, überliefert. Der jüdische Überlebende Heinz Sprung verfasste im Mai 1945 die oben im Ausschnitt zu sehenden handschriftlichen Notizen über seine Erinnerungen an knapp fünf Jahre Verfolgung und Gefangenschaft in verschiedenen Konzentrationslagern, die in der Leipziger Arbeitsanstalt begannen.
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Auf über dreißig Seiten zählt er die Etappen seiner Verfolgung auf: Nennungen von Orten, Daten, Namen von Tätern. Den Beginn seiner Inhaftierung in Leipzig beschreibt er detailliert. Der Text ähnelt einem Gedächtnisprotokoll.
Am 26. September 1939 war Heinz Sprung zusammen mit seinem Vater Markus in Leipzig vermutlich von der Polizei verhaftet und in der Städtischen Arbeitsanstalt in der Riebeckstraße 63 interniert worden. Am 7. Dezember wurden sie ins Leipziger Polizeigefängnis überstellt und am 25. März 1940 in das KZ Sachsenhausen bei Berlin deportiert. Wie beschreibt Heinz Sprung seine Internierung in der Leipziger Arbeitsanstalt, was können wir durch diesen individuellen Einblick lernen?
Die Angehörigen der aus Galizien stammenden jüdischen Familie Sprung galten nach dem Überfall der Wehrmacht auf Polen und dem Beginn des Zweiten Weltkrieges am 1. September 1939 plötzlich als feindliche Ausländer. Die Polizei verhaftete jüdische Männer mit polnischen Pässen und internierte diese in Leipzig in der Riebeckstraße 63. Die Städtische Arbeitsanstalt war damit im Herbst 1939 für viele der erste Stopp auf einem langen Weg der Verfolgung. Von hier wurden jüdische Jungen und Männer innerhalb von vier Monaten in verschiedene Konzentrationslager deportiert. Unter ihnen war der 18-jährige Heinz Sprung. Im Gegensatz zu seinen Familienangehörigen überlebte er die KZs Sachsenhausen und Auschwitz, Zwangsarbeit, Folter sowie Todesmärsche.[i]
Wo genau die Männer in der Arbeitsanstalt inhaftiert gewesen waren, ist unklar. Sprung charakterisierte den Ort als Internierungslager. Der dortige Alltag war geprägt von schwerer körperlicher Arbeit, Folter und Erniedrigung durch die SA:
„Arbeit auf den Höfen der Anstalt. Holzhacken, Holzspalten, Holz auf Wagen in Körben und Säcken transportieren. Scharfe Bewachung und Schikanen. Wer nicht schnell genug arbeitete, kommt in den Strafbunker.“[ii]
In einem Bettensaal fand regelmäßig eine Art brutaler Spießrutenlauf statt, den manche nicht überlebten:
„Die ganze Nacht hindurch stöhnen und jammern die Mißhandelten – in der Nacht und am nächsten Tag die ersten Toten. In der folgenden Zeit vergeht kein Tag ohne Prügel und Folterungen, die in der sog. ‚Reitbahn‘, einem Saal, der mit den Schlaginstrumenten, Betten, Bänken versehen ist, stattfinden.“
Jeden Sonntag wurden die Juden gezwungen, am Oberinspektor Mühlig vorbeizumarschieren und die Hymne der zionistischen Bewegung (der späteren israelischen Nationalhymne Hatikvah) zu singen. Lebensmittel und Kleidung, die jüdische Frauen für ihre Männer abgegeben hatten, wurden gestohlen. Nach vier Wochen der Internierung gingen die ersten Transporte in die Konzentrationslager Buchenwald und Sachsenhausen. Der letzte ging zwei Monate später. Sprung und sein Vater gehörten zu den letzten sechs internierten Juden in der Leipziger Arbeitsanstalt.
Im zweiten Abschnitt seiner Aufzeichnungen geht Sprung unter der Überschrift „Persönliches“ auf das eigene Erleben ein. Er beschreibt ausführlicher die erzwungene Arbeit, schätzt die Charaktere von Oberinspektor Mühlig und Polizeimeister Klinger ein. Die Vertretung des Letzteren, der nicht namentlich genannte „hochanständige Polizei-Hauptwachtmeister“, war ein Bekannter seines Vaters. Er half ihnen, indem er Kontakt zur Familie Sprung herstellte und Heinz als Maschinenschreiber in seinem Büro anstellte. Dort war er gezwungen die Deportationslisten für seine Mitgefangenen aufzustellen. Diese hochambivalente erzwungene Zusammenarbeit interpretierte Sprung in seinen Aufzeichnungen als Möglichkeit der Vorwarnung:
„Ich mache etwas Korrespondenz und schreibe die Transportlisten ins KZ, wobei ich den Kameraden insofern nützlich sein kann, als sie von mir schon einen Tag früher erfahren, daß sie weggehen und sich etwas vorbereiten können, während sie es so immer ½ Std. vor dem Abtransport erst erfahren haben.“
Es ist wahrscheinlich, dass er kurz nach Kriegsende den Nutzen dieser Arbeit für seine Mitinhaftierten betonte, um Kollaborationsvorwürfen zuvorzukommen.
Sprungs Beschreibungen der Städtischen Arbeitsanstalt enden mit einem Eintrag zum siebten Dezember 1939: Der Polizeimeister Klinger habe ihnen die Entlassung am morgigen Tag in Aussicht gestellt. Ein Besuch von Mutter und Schwestern ließ sie in froher, hoffnungsvoller Stimmung zurück: „Weder sie noch ich ahnen, daß sie nie, nie wieder ihren Sohn küssen wird.“ Diese Vorahnung ist eine der wenigen Stellen, die den zeitlichen Abstand des im Präsens geschriebenen Erlebten aufzeigen. Als Sprung seine Erinnerungen verfasste, war er der einzige Überlebende seiner Familie. Seinen Vater Markus ermordete die SS 1942 in Sachsenhausen, ebenso seine Mutter Cläre und die Schwestern Lilli und Tutti, vermutlich kurz nach ihrer Ankunft in Auschwitz. Sprung schrieb 1945 aus der Perspektive des Überlebenden. Er wollte dokumentieren, erinnern und mahnen. Die Riebeckstraße 63 stellte für ihn einen Ort des Übergangs dar: ein Symbol für den Beginn seiner Verfolgung, aber auch Verbindungsglied zum Leben davor.
Erst seit 2022 erinnert ein Stolperstein in der Leipziger Berggartenstraße 12 an die antisemitische Verfolgung der Familie Sprung. Die Städtische Arbeitsanstalt in der Riebeckstraße 63 können wir als Puzzleteil der komplexen antisemitischen Verfolgungsgeschichte im Nationalsozialismus begreifen.
Abb. 2: Pass für ehemalige KZ-Häftlinge von Heinz Sprung, Mai 1945.
(Archiv Bürgerbewegung Leipzig e.V. / Stolpersteine, Sammlung Peter Sprung)
[i] Vgl. Johanna Sara Mai: Biografie Bergartenstr. 12, Familie Sprung, in: Stolpersteine Guide, URL: <https://stolpersteine-guide.de/map/biografie/4532/sprung-familie>, 1.
[ii] Heinz Sprung: Aufzeichnungen von Heinz Sprung (Jg. 1920) – Ende Mai 1945, in: Archiv Bürgerbewegung Leipzig e.V., Abteilung Stolpersteine, Bestand Sprung.
Die Errichtung der Städtischen Arbeitsanstalt in der Riebeckstraße 1892
Die Städtische Arbeitsanstalt in Leipzig wurde 1892 gebaut. Architekt war Max Bösenberg. Er vertrat den Historismus und baute um die Jahrhundertwende zahlreiche Villen, Wohnhäuser, Fabrikhallen und Verlagsgebäude in Leipzig. Er plante den Gebäudekomplex in schlichter Ausführung, ohne dass der Anschein von Luxus geweckt worden wäre. Das Gelände war eine Mischung aus Wohn- und Arbeitsräumen sowie der dazugehörigen Räumlichkeiten, die der Versorgung der Insass*innen dienten.
„Zuweisung von weibl. Insassen für die Arbeitsanstalt“
Nach der Machtübertragung an die NSDAP Anfang 1933 wirkte sich die Radikalisierung der Wohlfahrts- und Gesundheitspolitik rasch auch auf die Städtische Arbeitsanstalt in Leipzig aus. Diese wurde seit 1934 von dem überzeugten Nationalsozialisten Georg Mühlig geleitet. Ab 1935 verschärften sich die Maßnahmen gegen verschiedene Gruppen, die in der Riebeckstraße interniert waren, drastisch.
Die Heimordnung für das Sonderheim für soziale Betreuung in der Riebeckstraße 63
Ab 1954 wurde ein Heim für soziale Betreuung in der Riebeckstraße 63 eingerichtet.